Zwischen Mündigkeit und Überforderung – Der Verlust des Verbraucherschutzes im deutschen Kapitalmarktrecht
- Einleitung
Das deutsche Kapitalmarktrecht hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich gewandelt. Während der Bundesgerichtshof (BGH) in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren ein weitreichendes Anleger- und Verbraucherschutzregime entwickelt hat, ist in jüngerer Zeit eine gegenläufige Tendenz zu beobachten: Der private Anleger wird zunehmend wie ein semiprofessioneller Marktteilnehmer behandelt.
Dieser Funktionswandel vollzieht sich weniger durch explizite Gesetzesänderungen als durch ein Zusammenspiel aus europarechtlicher Vollharmonisierung, Neustrukturierung des WpHG und Rechtsprechung, mit erheblichen haftungs- und beweisrechtlichen Folgen.
- Historische Linie: Von der starken Anlegerprotektion zur Marktlogik
2.1. Phase intensiven Anlegerschutzes
Die klassische „Hochphase“ des Anlegerschutzes ist geprägt durch die Entwicklung der Aufklärungs- und Beratungspflichten im Zusammenhang mit Wertpapier- und Fondsanlagen. Beispielhaft:
die Bond-Rechtsprechung des BGH zur Pflicht anleger- und objektgerechter Beratung (BGHZ 123, 126),
die Kick-Back-Rechtsprechung ab 2006, wonach Banken bei Anlageberatung über verdeckte Rückvergütungen aufklären müssen, um Interessenkonflikte transparent zu machen (BGH, Urt. v. 19.12.2006 – XI ZR 56/05; BGH, Urt. v. 12.02.2009 – XI ZR 510/07).
Diese Rechtsprechung führte zu einer massiven Haftungsverschärfung zulasten der Institute und wurde von der Praxis häufig als Überprotektionismus empfunden.
2.2. Europäische Vollharmonisierung und Umbau des WpHG
Mit der Umsetzung von MiFID I und vor allem MiFID II in das nationale Recht (2. FiMaNoG, Neufassung des WpHG 2017) wurde das Wertpapierhandelsrecht im Kern zu aufsichtsrechtlichem Organisationsrecht umgebaut. Zahlreiche Verhaltens- und Organisationspflichten finden sich nun in §§ 63 ff. WpHG n.F. als Umsetzung der MiFID-II-Verhaltensregeln (insb. Art. 24, 25 MiFID II).
Die einschlägigen MiFID-II-Bestimmungen sind weitgehend vollharmonisierend konzipiert; der nationale Gesetzgeber hat nur begrenzten Spielraum für weitergehende Schutzstandards. Die Kodifikation zielt vorrangig auf Markttransparenz, organisatorische Stabilität und Aufsichtszwecke, nicht auf die Schaffung eigener individualschützender Ansprüche des Anlegers.
- Neue Rechtsprechungslinie: Eigenverantwortung und „mündiger“ Anleger
3.1. Keine allgemeine Dokumentationspflicht der Beratung
Eine Schlüsselentscheidung ist das Urteil des BGH vom 24.01.2006 – XI ZR 320/04. Der XI. Zivilsenat hat dort klargestellt, dass Kreditinstitute nicht verpflichtet sind, die Erfüllung ihrer Beratungs- und Aufklärungspflichten schriftlich zu dokumentieren. Eine gesetzliche Pflicht zur Protokollierung (§§ WpHG a.F.) wurde verneint; auch aus dem Beratungsvertrag selbst lasse sich eine solche nicht herleiten.
Konsequenz: Die Beweislast für Beratungsfehler liegt beim Anleger;
eine Beweiserleichterung durch Dokumentationspflicht entsteht gerade nicht. Dies markiert bereits vor MiFID II eine Verlagerung von Risiken auf den Anleger, weil er ohne schriftliche Dokumentation erhebliche Nachweisprobleme hat.
3.2. Execution-only und Haftung von Direktbanken
Ein weiterer wichtiger Baustein ist die Rechtsprechung zur Haftung von Direktbanken und Execution-only-Geschäften. Im Urteil vom 19.03.2013 – XI ZR 431/11 hat der BGH entschieden:
Eine Direktbank, die ausdrücklich nur Execution-only-Dienstleistungen anbietet, schließt mit dem Kunden grundsätzlich keinen Anlageberatungsvertrag; entsprechend bestehen keine Beratungs- oder Aufklärungspflichten aus einem solchen Vertrag; eine Warnpflicht kommt nur ausnahmsweise in Betracht, etwa wenn eine evidente Falschberatung durch Dritte erkennbar ist.
Hier wird der Anleger ausdrücklich als eigenständig entscheidender Marktteilnehmer behandelt, der sich ggf. bei einem separaten Berater informiert, während die Direktbank nur die technische Ausführung übernimmt.
- Dokumentations- und Archivierungslücken im Online-Brokerage
4.1. Beratungsdokumentation vs. Transaktionsunterlagen
MiFID II und das neue WpHG sehen in § 63 Abs. 7 WpHG n.F. (Beratungsprotokoll bzw. Geeignetheitserklärung) eine Pflicht zur Aufzeichnung von Anlageberatung vor. Diese dient primär aufsichtsrechtlichen Zwecken; die Aufbewahrungsfrist beträgt regelmäßig fünf Jahre, zum Teil länger.
Für Transaktionsdaten, Orderbestätigungen und Depotauszüge besteht hingegen keine explizite, einheitliche zivilrechtliche Pflicht zur dauerhaften Vorhaltung.
Die Praxis vieler Online-Broker beschränkt die Online-Abrufbarkeit auf Zeiträume von Monaten oder wenigen Jahren. Eine darüber hinausgehende Pflicht zur dauerhaften (re)produzierbaren Archivierung ergibt sich aus dem WpHG oder der höchstrichterlichen Rechtsprechung bislang nicht.
4.2. Auskunfts- und Rechnungslegungspflichten nach § 666 BGB
Der Auskunftsanspruch des Kunden gegen die Bank wird klassisch aus § 666 BGB i.V.m. § 675 BGB hergeleitet. Dazu hat der BGH – vor allem im Kontext von Dienstleistungsverhältnissen und Treuhandkonstellationen – mehrfach klargestellt:
- 666 BGB begründet eine Auskunfts- und Rechenschaftspflicht, jedoch keine grenzenlose Pflicht zur Beschaffung und Auswahl beliebiger Unterlagen; die Pflicht kann durch Zumutbarkeitsgrenzen und entgegenstehende Interessen begrenzt werden; eine generelle Pflicht der Bank, jede Art von Unterlagen dauerhaft vorzuhalten oder nachträglich zu beschaffen, wird aus § 666 BGB nicht abgeleitet.
In der Praxis wird angenommen, dass Auskunftsansprüche aus § 666 BGB der Regelverjährung (§ 195 BGB) und damit einer dreijährigen Verjährungsfrist unterliegen, die spätestens mit Beendigung der Geschäftsbeziehung beginnt.
Spezifisch für das Wertpapierdepot hat der BGH bislang keine Grundsatzentscheidung gefällt, die eine Pflicht zur unbefristeten Bereithaltung oder Beschaffung sämtlicher Depotauszüge statuieren würde. Die analoge Anwendung der allgemeinen Grundsätze führt eher zu einer zeitlich und inhaltlich begrenzten Auskunftspflicht.
4.3. Nacherstellung von Kontoauszügen und Entgeltproblematik
Im Urteil vom 17.12.2013 – XI ZR 66/13 hatte der BGH über eine Entgeltklausel zu entscheiden, mit der eine Bank für die Nacherstellung von Kontoauszügen pauschal 15 € verlangte. Der BGH erklärte diese Klausel für unwirksam, weil sie den Kunden unangemessen benachteilige und nicht hinreichend am tatsächlichen Aufwand orientiert sei.
Wichtig ist: Der BGH hat damit keine allgemeine Pflicht zur unbegrenzten Aufbewahrung begründet; er unterstellt vielmehr, dass Nacherstellungen für einen gewissen Zeitraum üblich sind, stellt aber primär die Entgeltbemessung in den Mittelpunkt.
4.4. Aufbewahrungsrechtliche Rahmenbedingungen
Steuer- und handelsrechtliche Vorschriften (z. B. § 257 HGB, § 147 AO) ordnen für Banken und Unternehmen Aufbewahrungsfristen von acht bzw. zehn Jahren für bestimmte Buchungsbelege und Unterlagen an. Diese Normen dienen jedoch: nicht primär dem zivilrechtlichen Individualschutz, sondern der ordnungsgemäßen Buchführung und steuerlichen Nachprüfbarkeit.
Ein zivilrechtlicher Anspruch des Kunden gegen das Institut, sämtliche Unterlagen während dieser Frist jederzeit online verfügbar zu halten oder kostenlos neu zu erstellen, lässt sich daraus lediglich argumentativ, aber eben im Zweifel nicht zur Überzeugung eines Gerichts nicht ableiten, welches zwar nach Billigkeitserwägungen Vertragspflichten auf Auskunftserteilung auch im Umfang der ja ohnehin vom Finanzinstitut geschuldeten Pflicht zur ordnungsgemäßen Buchführung annehmen kann, nicht zwangsnotwendiger Weise sich der hier dargestellten Meinung anschließen muss.
- Systemische Bewertung: Der „mündige Digitalanleger“ als Leitfigur
Aus der Zusammenschau ergibt sich:
- Keine Dokumentationspflicht der Beratung (XI ZR 320/04);
- Begrenzte Haftung von Direktbanken im Execution-only-Geschäft (XI ZR 431/11);
- Kein unbeschränkter, aus § 666 BGB folgender Beschaffungs- und Archivierungsanspruch;
- Entgeltkontrolle bei Nacherstellung von Kontoauszügen, aber keine Pflicht zur unbegrenzten Vorhaltung (XI ZR 66/13).
Damit verlegt die Rechtsordnung die Verantwortung in weiten Teilen auf den Anleger, der: Beratungsfehler beweisen muss, ohne Anspruch auf vollständige Protokollierung, bei Execution-only weder Beratung noch umfassende Warnhinweise erwarten darf, für die Sicherung seiner Transaktionsunterlagen selbst sorgen muss, weil die Institute nicht zur dauerhaften Bereithaltung verpflichtet sind. Der normative Leittypus ist der „mündige Digitalanleger“, der funktionsweise von Plattformen, Abruffristen, Dokumentationsrisiken und Rechtsprechung in einer Weise überblicken soll, die in der Realität häufig nicht vorhanden ist.
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Die anwaltliche Empfehlung ist daher: Gehen Sie immer zu zweit zur Bank. Lassen Sie sich immer ggf. von einem neutralen Dritten begleiten, falls es um die Beratung mit Kapitalanlagen oder Fragen einer Finanzierung geht. Beim Online Broker: machen Sie sich eigene Aufzeichnungen in Bezug auf Kontoführung und Führung eines Depots: Drucken Sie sich zeitnah Unterlagen über Ihre Zahlungsanweisungen und den Handel mit Wertpapieren, Derivaten oder Krypto -Geschäften aus. Schlicht, weil dies zeitnah geschehen soll und Sie sich zwar sicher auf vorübergehende und auch Abrechnungspraxis mit hoher Qualität von Finanzdienstleistern verlassen können. Aber eben nicht darauf, dass Ihnen Unterlagen für Steuererklärungen oder Rechtsverfolgung von der Online Bank für Sie länger als unbedingt notwendig zur Verfügung gestellt werden.
- Rechtspolitischer Reformbedarf
Vor diesem Hintergrund erscheint rechtspolitisch angezeigt: Klarstellung der Archivierungspflichten für Depots und Wertpapiertransaktionen – etwa durch eine Pflicht der Institute, sämtliche Transaktionsunterlagen für einen definierten Zeitraum (z. B. 10 Jahre) reproduzierbar vorzuhalten;
Schaffung eines spezifischen, einklagbaren Informationsrechts des Anlegers im Wertpapierhandel, angelehnt an die Zahlungsdiensteregelungen (§ 675d BGB); Verknüpfung von aufsichtsrechtlichen Pflichten und zivilrechtlichen Ansprüchen, etwa durch explizite Schutzgesetzqualifikation ausgewählter Verhaltenspflichten (Art. 24 MiFID II / §§ 63 ff. WpHG); Stärkung der Beweisposition des Anlegers, etwa durch Beweislastumkehr oder gesetzliche Vermutungen zu Lasten des Instituts bei fehlender Dokumentation.
- Schlussfolgerung
Die neuere Entwicklung im Kapitalmarktrecht zeigt eine deutliche Entlastung der Institute und Verlagerung von Risiken auf den Anleger. Die klassische Rolle des besonders schutzbedürftigen Verbrauchers tritt hinter die Figur des selbstverantwortlichen Marktteilnehmers zurück, ohne dass dessen tatsächliche Informations- und Organisationsmöglichkeiten angemessen berücksichtigt würden.
Die hier ausgewertete Rechtsprechung belegt, dass keine Pflicht zur umfassenden Dokumentation und dauerhaften Bereithaltung von Unterlagen besteht und dass Execution-only-Kunden nur in Ausnahmefällen in den Genuss weitergehender Schutzrechte kommen.
Die rechtspolitische Aufgabe besteht darin, einen Ausgleich zwischen Marktlogik und Verbraucherschutz herzustellen, der der digitalen Realität des Online-Brokerage gerecht wird.
Zitate:
BGHZ 123, 126 – „Bond“.
BGH, Urt. v. 19.12.2006 – XI ZR 56/05; BGH, Urt. v. 12.02.2009 – XI ZR 510/07 (Kick-Back-Rechtsprechung).
Zur Neustrukturierung des WpHG im Zuge des 2. FiMaNoG ausführlich etwa Mansen, Die neuen Anlageberatungsregelungen der MiFID II, 2017; sowie die Synopse der WpHG-Änderungen v. 25.06.2017.
BGH, Urt. v. 24.01.2006 – XI ZR 320/04 – keine schriftliche Dokumentationspflicht der Anlageberatung.
BGH, Urt. v. 19.03.2013 – XI ZR 431/11 – Haftung der Direktbank im Execution-only-Geschäft, nur ausnahmsweise Warnpflicht bei evidenter Falschberatung durch Dritte.
Zum Auskunftsanspruch aus § 666 BGB vgl. etwa BGH, Urt. v. 01.12.2011 – III ZR 71/11; BGH, Urt. v. 08.02.2018 – III ZR 65/17; BGH, Urt. v. 09.11.2017 – III ZR 610/16; sowie OLG-Rspr. und Sekundärliteratur.
Zur Verjährung der Ansprüche aus § 666 BGB (Regelverjährung, drei Jahre) und deren Beginn siehe etwa aktuelle Darstellung in der Praxisliteratur.
BGH, Urt. v. 17.12.2013 – XI ZR 66/13 – Unwirksamkeit einer Entgeltklausel für Nacherstellung von Kontoauszügen; dazu Pressemitteilung und Anmerkungen.
Zu handels- und steuerrechtlichen Aufbewahrungsfristen vgl. etwa § 257 HGB, § 147 AO sowie aktuelle Übersichten von IHK und Fachpresse.
Zum Verhältnis von MiFID II, WpHG und Investor Protection etwa Gortsos, Stricto Sensu Investor Protection under the ‚MiFID II‘ (SSRN 2018) und diverse Aufsichtsverlautbarungen.

